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Buß- und Bettagsgottesdienst beschäftigt sich mit kirchlichem Antisemitismus

„Wir sind in die Irre gegangen ...“

„Sind wir in der Tiefe umgekehrt aus der Blindheit antijüdischer Traditionen? Und wo stehen wir heute, wenn wir uns umschauen und bekennen müssen, dass sich in unserem Land Judenfeindschaft und Antisemitismus in einer Weise ausbreiten, wie wir es überwunden geglaubt haben?“ Kritische Fragen, gestellt von Pfarrer Friedhelm Pieper, Referent für interreligiösen Dialog am Zentrum Oekumene der EKHN, standen im Mittelpunkt des zentralen Buß- und Bettagsgottesdienstes in der Mainzer Christuskirche.

H.Wiegers(V.l.) Pfarrer Friedhelm Pieper, Referent für interreligiösen Dialog am Zentrum Oekumene der EKHN und EKKW, der Kirchenhistoriker Dr. Oliver Arnhold, Propst Dr. Klaus-Volker Schütz, Jasmin Schönemann-Lemaire, Pfarrerin der Mainzer Christuskirche, und der Präses der EKHN, Dr. Ulrich Oelschläger.

„Sind wir in der Tiefe umgekehrt aus der Blindheit antijüdischer Traditionen? Und wo stehen wir heute, wenn wir uns umschauen und bekennen müssen, dass sich in unserem Land Judenfeindschaft und Antisemitismus in einer Weise ausbreiten, wie wir es überwunden geglaubt haben?“ Kritische Fragen, gestellt von Pfarrer Friedhelm Pieper, Referent für interreligiösen Dialog am Zentrum Oekumene der EKHN, standen im Mittelpunkt des zentralen Buß- und Bettagsgottesdienstes in der Mainzer Christuskirche. Der Veranstalter dieses Gottesdienstes, in dem Protestanten traditionell über eigene Fehler und Versäumnisse nachdenken, Dr. Klaus-Volker Schütz, Propst für Rheinhessen und das Nassauer Land, hatte das Thema, gut gewählt: Unter dem Titel „Wir sind in die Irre gegangen ...“ wurde hier nicht nur nach der Mitverantwortung der deutschen Protestanten an der nationalsozialistischen Judenverfolgung gefragt, sondern es wurden auch Zukunftsperspektiven aufgezeigt.

Die Liturgie des Gottesdienstes gestaltete Propst Schütz zusammen mit dem Präses der Kirchensynode der EKHN, Dr. Ulrich Oelschläger und der neuen Pfarrerin der Christuskirche, Jasmin Schönemann-Lemaire.  Als ausgewiesene Experten zum Verhältnis Christentum und Judentum waren nicht nur der Theologe Pieper und der EKHN-Präses Oelschläger, sondern auch der Kirchenhistoriker Dr. Oliver Arnhold, der eine Dissertation zum sog. Entjudungsinstitut in Eisenhach geschrieben hat. Pfarrer Friedhelm Pieper, dessen Schwerpunkt im Zentrum Oekumene der EKHN „Judentum und Naher Osten“ ist, hielt die Predigt. Der Kirchenhistoriker Dr. Oliver Arnhold gab einen fundierten Abriss über die Geschichte des Eisenacher Instituts und damit den Impuls für die sich anschließende Podiumsdiskussion, die von Präses Oelschläger geleitet wurde. Gleich zu Beginn des Gottesdienstes gab Propst Dr. Schütz den GottesdienstbesucherInnen wichtige Informationen zu den historischen Rahmenbedingungen für das „Entjudungsinstitut“ in Eisenach: „Der nationalsozialistisch orientierte Teil der evangelischen Kirche, die sog. Deutschen Christen, wollten den Protestantismus dem Nationalsozialismus angleichen und für die Eingliederung der Kirche in den NS-Staat sorgen. Ziel war es, alle Einflüsse des Judentums im christlichen Glauben auszulöschen“. Die Institutsbegründer, stellte Pfarrer Friedhelm Pieper in seiner Predigt fest, konnten sich unter anderem auf den über Jahrhunderte im Protestantismus verbreiteten Gedanken, dass das Judentum eine bloße Vorstufe des Christentums und damit eine „defizitäre“ Religion, berufen sei: „Gerade die protestantische Theologie und Liturgie in Gottesdienst und Religionsunterricht hat den Boden mit vorbereitet, auf dem sich die rassisch begründete Judenfeindschaft in Deutschland so gut einwurzeln und auf dem sie so ungehindert aufwachsen konnte“.

Kirchenhistoriker Arnhold schilderte in seinem Vortrag, wie das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ mit Hilfe von 180 Mitarbeitenden und 46 Forschungsaufträgen daran arbeitete, alle jüdischen Elemente aus Theologie und Kirche in Deutschland zu entfernen. So brachte man z. B. ein „entjudetes“ Gesangbuch heraus, das sich – mit Bestellzahlen von 40 000 Stück – zu einem Bestseller entwickelte. Ja, man unternahm sogar den Versuch, die nichtjüdische Herkunft von Jesus nachzuweisen. Letztlich waren jedoch alle Bemühungen des Instituts um einen Erhalt einer nationalsozialistisch „bereinigten“ Kirche im NS-Staat vergeblich. „Von staatlichen Stellen“, so Arnhold, „wurde das Institut immer stärker ignoriert, denn nach Hitlers Plänen sollten Kirchen in Deutschland keine Zukunft haben.“ Diese Ablehnung durch die NS-Spitze nutzten die Mitarbeitenden des Institutes nach dem Zweiten Weltkrieg dazu, sich quasi als Widerstandskämpfer zu präsentieren, die mit ihren „Forschungen“ versucht hätten, die Kirche durch den Nationalsozialismus zu retten.

Zwar räumte dann die evangelische Kirche 1947 mit der sog. Darmstädter Erklärung „Wir sind in die Irre gegangen ...“ ein, dass man als Kirche während das Nationalsozialismus auf einem Irrweg war, erläuterte Theologe Pieper die Vergangenheitsbewältigung des Protestantismus, der protestantische Antisemitismus sei aber zu diesem Zeitpunkt noch mit keinem Wort erwähnt worden. Erst seit den 1980er Jahren habe man sich mit der eigenen antijüdischen Tradition auseinandergesetzt, was sich unter anderem in der der Erweiterung des Grundartikels der EKHN-Kirchenordnung 1991 fortgesetzt hätte, die das Judentum als vollgültige und ganz und gar nicht defizitäre Glaubens- und Lebensform anerkannt habe. Pieper räumte jedoch ein, „dass diese Erkenntnis noch nicht auf allen Kanzeln und in allen Gottesdienstmaterialien angekommen ist.“ Als positiven Ausblick berichtete der Referent für interreligiösen Dialog davon, dass die Umkehrbewegung der protestantischen Kirche von jüdischer Seite weitgehend anerkannt und gewürdigt werde: „Wir erleben hier eine unerwartete Offenheit, ein Vertrauen, ein gemeinsames Forschen und Lehren“. Dieser Trend gibt Hoffnung.

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