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Interview

Moralische Instanz oder politischer Akteur?

DekanatPfarrer i.R. Axel Held, Claudia Koch, Pfarrer i.R. Fritz Delp, Dekanin Jutta HerbertPfarrer i.R. Axel Held, Claudia Koch (Diakonie Rheinhessen), Pfarrer i.R. Fritz Delp, Dekanin Jutta Herbert

In einer modernen Gesellschaft ist die Kirche eine Stimme von vielen. Welche Rolle spielt Kirche (noch) in der Politik, über welchen Handlungsspielraum verfügt sie und wie kann Kirche dazu beitragen, Frieden zu sichern? Darüber diskutieren Dekanin Jutta Herbert, Claudia Koch (Diakonie Rheinhessen) sowie die Ruhestandspfarrer Fritz Delp und Axel Held.

In einer Zeit tiefgreifender Umbrüche und anhaltender Krisen wird immer wieder die Frage laut: Darf Kirche politisch sein oder sollte die Institution sich auf den Glauben konzentrieren?

Fritz Delp: Kirche MUSS politisch sein. Es gab auch schon immer weltliche Themen, zu denen Kirche Stellung bezogen hat. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch schon fatale politische Entscheidungen getroffen wurden, deshalb muss Kirche stets selbstkritisch bleiben.

Jutta Herbert: Das sehe ich auch so. Kirche war schon immer politisch, ob in Predigten oder bei Protesten, wie etwa den Ostermärschen. Es geht dabei nicht um Parteipolitik. Bei friedensethischen Themen beschäftigt sich Kirche mit ihren ureigenen Fragen.

Axel Held: Kritiker beklagen, dass uns die Leute weglaufen, wenn wir uns politisch positionieren. Wie Philip Potter, ehemalige Generalsekretär des Weltkirchenrates, bin ich der Meinung, dass wir damit leben müssen und uns sogar darüber freuen sollten, denn damit entwickeln wir uns von der Volkskirche zu einer bekennenden Kirche.

Claudia Koch: Kirche und Diakonie müssen sich positionieren, wenn es etwa darum geht, Daseinsvorsorge mitzugestalten. Dies gehört zu den Kernaufgaben einer diakonischen Kirche und wirkt einer Spaltung der Gesellschaft entgegen.

Gibt es 'die eine' politische Position der Kirche und falls ja, wer hat darüber die Deutungshoheit?

Fritz Delp: Obwohl es Aufgabe der Kirche ist, sich für Menschen zu engagieren, die am Rande der Gesellschaft stehen, hat Kirche in der Vergangenheit oftmals keine eigene politische Position vertreten, sondern ist dem Zeitgeist hinterhergehinkt – das sehe ich kritisch.

Axel Held: Es stimmt zwar, dass Kirche ihre Perspektive 'nach unten' bzw. an den Rand der Gesellschaft richten muss, denn nur wenn eine Gesellschaft auf den ökumenischen Prinzipen Gerechtigkeit, Partizipation und Nachhaltigkeit basiert, ist die Grundlage für ein friedliches Miteinander gegeben. Aber: Es kann nicht nur eine Position der Kirche geben, auch innerhalb unserer Institution müssen Dialog und Streitkultur gefördert werden – dies würde sonst wiederum dem Prinzip der Partizipation widersprechen.

Jutta Herbert: Kirchenpolitisch mag es nicht 'die eine' Meinung geben – die theologische Orientierung aber ist klar! Der Friede ist ein wesentlicher Aspekt unserer christlichen Botschaft: "Selig sind die, die Frieden stiften." Frieden wiederum gibt es nicht ohne Gerechtigkeit, da kann ich meinen Vorrednern nur zustimmen.

Fritz Delp: Leider gibt es zwischen biblischem Auftrag und der Realität eine große Diskrepanz. Derzeit bin ich als Pfarrer für die deutsche evangelische Gemeinde in Madrid tätig. Gerade haben wir mit einer Gebetswoche die Einheit der Christen gefeiert, dabei wurden auch der Opfer gedacht. Bonhoeffer wurde lange nicht kirchlich betrauert, erst durch das Engagement kleiner Gruppen hat sich das geändert. Auch wenn allgemein Einigkeit zu bestimmten Themen zu herrschen scheint, sollten wir unsere Haltung immer wieder kritisch hinterfragen.

Wie weit reicht der Handlungsspielraum von Kirche – geht er über eine ethisch-moralische Positionierung hinaus?

Jutta Herbert: Es gibt zahlreiche kirchliche Aktionen, die über ein symbolisches Handeln hinausgehen. Da sind Demonstrationen wie die Ostermärsche, Friedensgebete, Glockengeläut – auch aktuell für die Opfer des Ukraine-Krieges. Auch Ehrungen wie jüngst die Verleihung der Luther-Medaille des Evangelischen Dekanats Worms-Wonnegau an Maxim Juschak von der Wormser Ukraine-Hilfe zeigen, dass wir an der Seite der Schwachen sind. Außerdem glaube ich an die Macht des Gebets.

Claudia Koch: Kirche und Diakonie handeln finanzpolitisch aktiv und zielgerichtet. Diakonie benennt die Ursachen von sozialer Not gegenüber Politik und Gesellschaft – das Machtvakuum von 1933 darf sich nicht wiederholen. Um nur einige Beispiele zu nennen, gibt es etwa Sozialberatung, Wärmestellen, Sprach- und Integrationsangebote oder auch die 'Demokratielotsen', die demokratisches Verständnis auch innerhalb von Kirche und Diakonie fördern und etwa auf den Umgang mit jeglicher Form von Extremismus vorbereiten.

Axel Held: Als ehemaliger Schulseelsorger möchte ich auf die Bildungseinrichtungen als wichtiges Feld für kirchliches Engagement hinweisen. Und auch unsere Jugendzentren sind Orte politischen Handelns, indem wir Heranwachsenden Orientierung bieten.

Fritz Delp: Als Beispiel für politisches Handeln seitens der Kirche in Worms möchte ich „das alternative Krippenspiel“ anführen, das seit 2014 fester Bestandteil des Weihnachtsmarkts ist. Die Aktion startete als Mahnwache, nachdem ein Vertreter der NPD in den Stadtrat gewählt wurde. Anfangs wurden wir belächelt, später kamen Vertreter der Stadt und reichten uns die Hand – ein Beispiel für das Engagement weniger Menschen, das schließlich größere Kreise zieht.

Deutschland liefert dieser Tage Panzer an die Ukraine. "Frieden schaffen ohne Waffen": Ist das aktuell ein zielführendes Konzept?

Axel Held: Diese Forderung ist nicht obsolet geworden, im Gegenteil. Lange konnten wir das unproblematisch rufen, mit Blick auf den Krieg in der Ukraine müssen wir aktuell unsere Handlungsmöglichkeiten abwägen. Wenn wir uns nur verbal beteiligen würden, wäre das ein Frevel, denn unsere Solidarität muss den Opfern gelten. Dem Verbrechen, das der Kreml in die Ukraine trägt, kann nicht nur verbal begegnet werden.

Fritz Delp: Ich sehe das anders. Natürlich gilt unsere Solidarität den Opfern, aber während des Apartheid-Regimes in Südafrika oder der Unruhen in Südamerika wäre hier niemand auf die Idee gekommen, Waffen an die Unterdrückten zu liefern. Der Unterschied heute ist: Der Kriegsschauplatz befindet sich in Europa. Anstatt nun Waffen an die Ukraine zu liefern, hätte man Russland zu einem viel früheren Zeitpunkt auf Grund von ethischen Grundsätzen Sanktionen auferlegen müssen.

Zum Abschluss ein Blick in die Zukunft: Wie stellen Sie sich das Verhältnis von Kirche und Politik in zehn Jahren vor?

Jutta Herbert: Ich halte daran fest, dass Kirche weiterhin eine Stimme hat, die gehört werden wird.

Claudia Koch: Auch ich bin davon überzeugt, dass Kirche und Diakonie in Zukunft was zu sagen haben und gehört werden, denn wir haben Antworten auf die Frage nach dem Sinn und den Problemstellungen in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft.

Axel Held: Wir sehen ja die Kirchenaustritte und werden dadurch immer mehr zur Bekenntniskirche, das müssen wir dann auch politisch zum Ausdruck bringen. Es wird sich dann nicht mehr die Frage stellen, ob wir politisch sein wollen, sondern das wird dann mehr denn je unsere Aufgabe sein.

Fritz Delp: Menschen suchen heute nach Spiritualität und sie werden in zehn Jahren danach suchen. Wenn Kirche aus ihren Wurzeln heraus glaubwürdig agiert, wird sie eine starke diakonische Kirche sein.

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