Vor 30 Jahren wurde in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) der erste Verein für Notfallseelsorge gegründet. Die Gruppe in Wiesbaden zählte auch bundesweit zu den ersten Initiativen ihrer Art. Die beiden Gründungsmitglieder, Pfarrer Andreas Mann und Detlef Nierenz, leisteten damals echte Pionierarbeit. Inzwischen sind rund zwei Dutzend weitere Gruppen mit rund 600 ehrenamtlichen Notfallseelsorgerinnen und -seelsorgern entstanden.
Die EKHN bietet neun hauptamtliche Stellen für den Dienst. Der runde Geburtstag der Notfallseelsorge wurde am 18. November 2023 in Frankfurt mit einem Festgottesdienst gefeiert.
Bei den Einsätzen der Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger geht es fast immer um Tod. Er taucht plötzlich auf, oft im häuslichen Bereich, bei Suiziden, wenn ein Säugling stirbt, bei Wohnhausbränden, Gewaltverbrechen oder Unfällen. Für Betroffene ist das eine Katastrophe. Das Leben bekommt plötzlich eine andere Bedeutung, alles scheint zusammenzubrechen, kein Ausweg in Sicht. Die Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger unterstützen die Betroffenen und durchleiden mit ihnen die ersten Stunden. Auf dem Gebiet der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der benachbarten Kirchen haben sich im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte flächendeckend Menschen gefunden, die als Pfarrerin und Pfarrer der EKHN oder als ehrenamtliche Kräfte rund um die Uhr bereit sind, anderen Menschen in schwierigen Situationen Hilfe und Beistand zu geben.
Volker Jung, Kirchenpräsident der EKHN, hat eine enge Bindung zur Notfallseelsorge. 1998 begleitete er als damaliger Dekan im Vogelsberg eine Familie, die ihre 19-jährige Tochter bei einem Unglück verloren hatte. „Ich habe gespürt, wie sehr sich die Betroffenen wünschen, dass in solchen Momenten jemand für sie da ist“, so der Kirchenpräsident. Er baute damals mit anderen Pfarrerinnen und Pfarrer des Dekanats neue Strukturen auf, um sicherzustellen, dass Menschen in Not seelsorglichen Beistand bekommen. „Mit Blick auf die Bibelzeile aus dem Zweiten Korintherbrief ,Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit´ geben wir Menschen das Versprechen, sie in größter Schwäche nicht allein zu lassen. Die Notfallseelsorge teilt Verzweiflung und zeigt nicht nur, aber auch schon allein durch die Präsenz, dass wir gemeinsam nicht von Gott verlassen sind“, sagt Volker Jung.
Im Südwesten des EKHN-Gebietes haben sich fünf Einheiten der Notfallseelsorge etabliert, die Menschen in Krisensituationen helfen. Dazu gehören der Verein Seelsorge in Notfällen in Wiesbaden, die Ökumenische Notfallseelsorge Worms und Umgebung, die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft der Notfallseelsorge im Landkreis Alzey-Worms, die Ökumenische Notfallseelsorge Mainz sowie die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft Notfallseelsorge im Landkreis Mainz-Bingen.
Pfarrer Andreas Mann machte Anfang der 1990er Jahre bei seinen Einsätzen als ehrenamtlicher Rettungssanitäter der Johanniter immer wieder die Erfahrung, dass betroffene Menschen sich mitten in ihrem emotionalen Chaos und dem Leid eine längere Begleitung wünschen. Es entstand die Idee einer Adresskartei für Notfallkontakte, um schneller Pfarrpersonen anrufen zu können. Da es bei diesem Konzept jedoch Probleme mit der Erreichbarkeit und Zuständigkeit gab, entwickelten Andreas Mann, Pfarrer Detlef Nierenz sowie Eberhard Busch, der aktuelle Präses des Dekanatssynodalvorstands im Dekanat Wiesbaden, ein effizienteres System und gründeten 1993 den Verein „Seelsorge in Notfällen e. V.“ Schon im November 1994 gab es den ersten außergewöhnlichen Einsatz. Nach einem Hotelbrand brachte Andreas Mann 20 Betroffene, die auf der Straße standen, im Gemeindehaus in Wiesbaden-Dotzheim unter. Die älteste Gruppe der Notfallseelsorge in der EKHN hat sich nach Ansicht der Gründungsmitglieder hervorragend entwickelt. „Notfallseelsorge ist in der Gesellschaft angekommen wird gefordert“, sagt Pfarrer Andreas Mann.
Eine starke Vernetzung und eine professionelle Kooperation verschiedener Systeme, das kennzeichnet die 1998 gegründete Notfallseelsorge Worms. Sie wird vom Bistum Mainz und dem Evangelischen Dekanat Worms-Wonnegau getragen. Der Zuständigkeitsbereich umfasst das Stadtgebiet Worms sowie die umliegenden Verbandsgemeinden Eich, Monsheim, Rhein-Selz und Wonnegau. Schon bei den ersten Einsätzen der Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger entstand ein Team aus verschiedenen Rettungsdiensten und den Kirchen. Neben dem Dekanat und dem Bistum gehören auch der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) und das Deutsche Rote Kreuz (DRK) dazu. Seit drei Jahren stehen Pfarrer Jürgen Arndt und Pastoralreferentin Carolin Bollinger vom Bistum Mainz an der Spitze. Derzeit engagieren sich zehn Ehrenamtliche. Ein Ausbildungskurs, der noch bis April 2024 läuft, bringt weitere Fachkräfte ins System, um Menschen in schwierigen Momenten zu begleiten. Die Schulungsangebote für die Gruppe umfassen unter anderem Besuche bei einem Bestatter und Gespräche mit Experten der Bahn über das Thema „Tod im Gleisbett“.
Ein finanzieller Zuschuss des Landkreises Alzey-Worms brachte der „Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft der Notfallseelsorge“ Ende der 1990er Jahre kräftigen Rückenwind bei der Gründung. Unterstützung kam auch vom Deutschen Roten Kreuz. Das Organisationsteam entwickelte eine klare Aufgabenverteilung und Strukturen für die Notfallseelsorge. Zur Notfallseelsorge Alzey-Worms gehören heute 20 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sowie die ökumenische Leitung mit Pfarrer Jürgen Arndt und Pastoralreferent Guntram König (Bistum Mainz). Einen der größten Einsätze leisteten die Notfallseelsorgerinnen und -seelsorger 2020, als das Team nach einem Busunfall vielen Menschen Beistand leisten musste. Ein Pilotprojekt ist die Zusammenarbeit mit dem Arbeiter-Samariter-Bund in Mainz. Gemeinsam wird dabei eine Ausbildung für Gruppenführer der Teams entwickelt, um in sogenannten Großschadenslagen effektiv helfen zu können.
In Mainz hatte Pfarrerin Dr. Angela Rinn, die als Feuerwehrpfarrerin Gottesdienste speziell für Brandschützer gestaltete, die zündende Idee, Feuerwehrleute seelsorglich zu begleiten, wenn diese sich nach einem belastenden Einsatz in akuten Krisen befinden. Sie wurde später immer wieder zu Einsätzen gerufen, in denen Betroffene seelischen Beistand brauchten. Dr. Angela Rinn, die Pfarrer Ralf Schmidt und Stephan Müller-Kracht, der katholische Dekanatsreferent Jürgen Nikolay sowie ein Vertreter der Stadt Mainz nahmen 1999 an Konzeptionsgesprächen zur Gründung eines Notfallseelsorgesystems teil. Zunächst nahmen ausschließlich Hauptamtliche aus dem Bereich der evangelischen und katholischen Kirche den Dienst auf, bis sich die Notfallseelsorge auch für ehrenamtliche Kräfte aus andren Bereichen öffnete. Im September 2023 hat Pfarrer Johannes Hoffmann die Nachfolge von Pfarrerin Kiworr-Ruppenthal die Leitung der Gruppe übernommen. Die Arbeit der Notfallseelsorge in Mainz wird von einem ökumenisch besetzten Vorstand verantwortet.
Drei Jahre nach der Gründung der „Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft der Notfallseelsorge im Landkreis Mainz-Bingen schaffte es die Gruppe mit Pfarrer Hartmut Lotz als erstem hauptamtlichen Leiter, eine 24-Stunden-Rufbereitschaft zu gewährleisten. Das System gehört zur Ökumenischen Notfallseelsorge Rheinhessen. Die Trägerschaft teilen sich das Bistum Mainz und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau. Sie sind für die Einsatzbereitschaft zuständig, bilden Nachwuchskräfte aus, schaffen die Ausrüstung wie etwa Einsatzjacken, reflektierende Hosen, Sicherheitsschuhe, Rucksäcke, Stirnlampen, kleine Holzkreuze und Teddybären an. Der Landkreis Mainz-Bingen beteiligt sich, indem er Funkmelder für das Team und Digitalfunkgeräte für die Leitung zur Verfügung stellt.
Eine Besonderheit bei den Einsatzmöglichkeiten ist das Angebot der „Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen“ (der SbE®), das auf der Grundlage eines vielfältigen Fortbildungspaketes steht. Fachleute mit dieser speziellen Qualifikation halfen auch den Menschen bei der Flutkatastrophe im Ahrtal knapp zwei Wochen lang.